HIER UND JETZT
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Handy - wo bist Du?
(1) Das Mobil-Telefon heißt in jedem Land anders. In Deutschland nennt man es „Handy“, in Frankreich
„Ou-est-tu?“ (Wo bist Du)
Das herkömmliche Telefon hatte einen Ort. Es stand auf einem Schreibtisch in einem Büro, hing an der Wand in einer Küche, oder befand sich in einer verglasten Zelle an einer Straßenecke.
Das Mobil-Telefon hat keinen Ort mehr. Es ist immer dort, wo sein Besitzer ist. Das kommt uns entgegen; denn der Mensch der Frühzeit war ein Nomade. Der moderne Mensch ist ebenfalls unterwegs. Bald werden wir alles, was wir zum Überleben brauchen mitnehmen können. Das Mobiltelefon ist ein entscheidender Schritt auf diesem Weg. Das Telefon ist mittlerweile ein Computer mit stetig wachsenden Features - Telefonieren ist dabei nur eine Tätigkeit unter vielen.
(2) Mit dem Handy wird jeder überall erreichbar.
Das ermöglicht eine totale Kontrolle der Nutzer; deshalb
nennt man das Handy auch „Hundeleine“.
Es gibt 5 Möglichkeiten sich zum Handy zu verhalten.
1) Man besitzt kein Handy, Auch wenn jemand kein Handy hat, ist er Teil des „Handy-Systems“.
2) Man nimmt das Handy nicht mit - man lässt es zu Hause.
3) Man nimmt es zwar mit, aber schaltet es nicht ein, ist nicht auf Empfang.
4) Man ist auf Empfang, aber man selektiert die Anrufe und
man entscheidet, ob man den Anrufer sprechen will.
5) Man ist immer auf Empfang, das Telefon hat immer Vorrang.
Er wird zur Auseinandersetzung mit dem „Mobil-Telefon“ gezwungen.
Parallel zur Verwahrlosung und Verknappung öffentlicher Telefone, kann jeder, der noch kein „Handy“ besitzt den sozialen Druck spüren, sich ins Handy-User-System einzufügen.
(5) Von Anfang an war das Handy immer auch ein Statussymbol. Zum System gehört, dass kein Handy zu haben, zum Bekenntnis wird.
Vor Jahren galt es als Status des Managements, kein Handy zu haben.
Motto: “Ich muss nicht immer erreichbar sein. Meine Mitarbeiter organisieren meine Termine für mich.“
Diese Haltung nimmt ab. Es bleibt der Hang zum Analogen in den Führungsetagen, dort sitzen die „Emailausdrucker“!
„Für Email habe ich keine Zeit. Aber wichtige Emails druckt mir meine Sekretärin aus.“
Wer schon einmal erlebt hat, wie eine Gruppe von Jugendlichen in einer Kneipe, direkt nach dem Platznehmen, einer nach dem anderen sein Handy herausholt, bezweifelt nicht mehr, dass ein Handy viel mehr ist, als nur ein mobiles Telefon.
Das Handy ist, wie ein COLT, ein Ding mit dem man imponieren kann. (Siehe die Bedeutung der Waffen in amerikanischen Western- und
Aktion -Filmen)
(6) Das „Handy“ ist ein Fetisch. Verwendung findet es als sichtbares Zeichen bei Initiations-Ritualen innerhalb der Familie. Kinder, die ins Gymnasium gehen, bekommen ein Handy. Jetzt gehören sie zur Erwachsenen-Welt. (Dass die Kinder damit besser kontrollierbar sind, ist ein Nebeneffekt, den die Eltern gerne „in Kauf nehmen“)
(7) Das Handy hat den „Öffentlichen Raum“ Grund legend verändert. Überall und jederzeit kann mein Handy klingeln und mich aus meiner Gegenwart reißen. Keine Zelle, kein Schallschutz, jeder Fremde in meiner Nähe kann jetzt mein Gespräch miterleben.
Das hat unser Verhältnis von dem, was öffentlich und privat ist, nachhaltig verändert. Seitdem kann jeder unfreiwillig und überall zum Ohrenzeugen von intimen Details werden. Und seitdem geht die Schamschwelle stetig gegen Null.
(8) Die Telefon-Präferenz existiert seitdem es das Telefon gibt. Im Gespräch mit einem Gegenüber wird beim Klingeln des Telefons in der Regel das Gespräch abrupt unterbrochen und das Telefongespräch angenommen. Der Andere am „Fernsprecher“ wird dem Anwesenden
vorgezogen. Er ist jetzt nur noch unfreiwilliger Ohrenzeuge und muss so lange warten, bis das Telefonat zu Ende ist.
Die Telefon-Präferenz ist durch das Handy entfesselt worden - sie ist diktatorisch! Das Gespräch findet jetzt über meiner Entenbrust statt.
Es kann geschehen, dass der Angerufene laut Details seiner Darmspiegelung erzählt und diese Schilderung von mir Besitz ergreift.
(9) In der Vor-Handy-Zeit gab es in Gaststätten oft ein Wandtelefon.
Warum hat es uns weniger genervt, wenn ein Gast dort laut telefonierte und warum nervt es uns, wenn derselbe Gast heute am Nebentisch mit seinem Handy telefoniert?
Das Wandtelefon gehört zum System – es ist fester Bestandteil der Gasstätte. Es hat dort seinen Ort, genau wie die Garderobe und der Tresen.
(10) Warum ärgert uns das Handygespräch eines Tischnachbarn im Restaurant mehr, als ein Gespräch zwischen zwei realen Personen?
Die Antwort ist menschlich und irrational zugleich. Der Fremde, der Unbekannte und Unsichtbare am Mobiltelefon wird zum Einbrecher.
Er bricht ins System - Restaurant ein. Das System definiert sich wie folgt: Ich sitze mit Freunden und Fremden in einem Restaurant, einem öffentlichen Raum. Alle Anwesenden verbindet eine gemeinsame Übereinkunft: Während wir Getränke und Speisen zu uns nehmen, unterhalten wir uns mit Freunden über Essen und Trinken und über Gott und die Welt. Dabei werden wir von den Kellnern des Restaurants bedient und am Schluss begleichen wir diesen Aufenthalt mit dem Bezahlen unserer Rechnung.
(11) Wenn in ein Restaurant ein Klingelton einbricht und sich ein Gespräch mit einem unsichtbaren „Gast „entwickelt, verändert sich das System.
Der Dialog am Telefon unterscheidet sich wesentlich von einem realen Dialog zwischen zwei Personen im „Hier und Jetzt“ eines Restaurants.
Bei einem Dialog am Nebentisch höre ich immer beide Positionen. Das erleichtert das Weghören oder das neugierige Mithören.
Bei einem Telefonat wird automatisch das Gehirn der Mithörenden
geentert, okkupiert, an sich gerissen, besetzt.
Wir können unser Gehirn nicht ausschalten, deshalb beginnen wir automatisch zu phantasieren, um die logischen Lücken des Telefonats zu ergänzen. Das kann quälend sein und schlechte Laune machen. Besonders schlimm bei dramatischen Telefonaten. Deshalb wird dies auch gerne bei Filmen eingesetzt, die Spannung erzeugen wollen: „ Nein, wirklich? ... PAUSE ... oh Gott, wie ist das denn passiert?“
(12) Das Handy hilft den Nichtrauchern und den Rauchern könnte es das Aufhören erleichtern. Beide Medien - das Handy und die Zigarette - sind ein ideales Medium um den Tag zu strukturieren. Rauchpausen in bestimmten Situationen, Handypausen in bestimmten Situationen; die Nutzung von Übergangs-Situationen für Übersprungs-Handlungen ist beiden gemeinsam. Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Auf dem Bahnsteig greift der Raucher zur Zigarette und der Nichtraucher zum Handy. Dort kommt es zum Positions-Anruf: „Ich bin jetzt auf dem Bahnhof!“
Einen mentalen Unterschied zwischen Raucher und Anrufer gibt es. Die Zigarette ritualisiert die Gegenwart und setzt Zeichen im „Hier und Jetzt“. Das Handy wird genutzt, um aus dem „Hier und Jetzt“ zu verschwinden: Wer hat angerufen? Wer hat eine SMS oder Email geschickt?
(13) Die Schamgrenze hat sich seit dem mobilen Telefon verschoben. Jedes Thema ist heutzutage möglich, es existiert kein Tabu mehr.
Der Ortsverlust beim Mobiltelefon zeigt seine hässlichen Folgen. ORT heißt lateinisch LOCUS. Es gibt in unserer Zeit immer weniger bestimmte Orte für bestimmte Verrichtungen. Überall telefonieren ist wie „überall hinpinkeln.“ Das ist der Preis für die Endritualisierung des Telefonierens. Es gibt keine zwischenmenschliche Situation mehr, die davon ausgenommen wäre.
(14) Telefonzelle kehrt zurück. Eine Konsequenz der „Handymanie“ ist die Zunahme von Verbotsschildern im öffentlichen Raum. Man findet sie in Krankenhäusern, Theatern und auch schon in Restaurants. Immer öfter erlebt man telefonierende Menschen auf den Toiletten. Eine Prognose drängt sich auf:
Wie in den 90er Jahren, beim Telefonzellen - Sterben riecht es beim Telefonieren jetzt wieder nach Toilette.
(15) Das Handy ist längst nicht mehr auf die Funktion des Telefonierens beschränkt. Die Digitalisierung beschleunigt die Konvergenz, die Annäherung der Medien. Ein einzelnes Gerät kann gleichzeitig andere Geräte ersetzen. Das Handy ist ein Player für Musik und Video, ein Computer mit dem man ins Internet gehen kann, ein Navigationsgerät, ein Gerät für Spiele, und, und, und...
(16) Das Handy kann überall eine Kognitive Dissonanz
erzeugen. Wie das Schicksal kann es jederzeit zuschlagen und
unsere Existenz erschüttern. Beim Karneval erreicht uns die
Todesnachricht und auf der Beerdigung eines Freundes das
Sonderangebot einer Weinfirma aus Italien. Das Handy wird
zum „Deus ex machina“ auf der Bühne des Lebens. Der Gott
kann jeden Moment, laut klingelnd, aus dem „Elektronischen
Schnürboden“ auftauchen.